Auf vielfachen Wunsch und zur Dokumentation veröffentlichen wir die Gedenkrede zum Holocaust-Gedenktag 2016, die von einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern der Holzkamp-Gesamtschule im Stadtarchiv Witten erarbeitet wurde.
Emma Beke Bandmann:
Sehr geehrte Anwesende,
wir drei sind heute stellvertretend für unsere Generation hier – die Generation der in den 1990er Jahren Geborenen, die Generation in Verantwortung, die Zukunft zu gestalten.
Wir waren nicht dabei, als dieses Areal zum Zwangsarbeiterlager wurde. Wir waren nicht dabei, als hier ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald errichtet wurde. Wir kennen weder die Gefangenen persönlich, noch haben wir gesehen, was mit diesen geschah. Doch wissen wir heute, dass auch an diesem Ort das Grauen ein zu Hause gefunden hatte. Heute ist dies ein Ort der Erinnerung, der für uns wichtig und erhaltenswert ist.
Cem Zor:
Wir stehen momentan auf der 2.600m² großen Restfläche des ehemaligen 20.000m² großen Zwangsarbeiterlagers. Das ist etwa neun Mal größer als dieses Gelände. Hier standen u. a. 14 Baracken sowie ein Lagerzaun aus abgewinkelten Betonpfählen, die heute noch zum Teil erhalten sind. Auch sind Reste der Fundamente wieder sichtbar gemacht worden. Das Zwangsarbeiterlager bestand von 1941 bis 1944 und ein Teil davon wurde Mitte September 1944 zum Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald umgebaut. Über 700 KZ-Häftlinge verschiedener Nationen wie aus Frankreich, Russland, Polen, Italien, der Tschechoslowakei, Deutschland, der Ukraine und viele mehr mussten im Annener-Gussstahlwerk für die Rüstungsindustrie arbeiten. Sie wurden von (42) SS-Männern bewacht.
Während der Endphase des Krieges waren etwa 45% aller Arbeiter und Arbeiterinnen in Witten Zwangsarbeiter. All diese mussten unter gefährlichen Arbeitsbedingungen, Schwerstarbeit mit fehlendem Unfallschutz, unter mangelnder medizinischer Versorgung, fehlender Hygiene, chronisch unterernährt mit mangelhafter Kleidung in ungeheizten Unterkünften leben. Auch Appell stehen, Drangsalierungen und Prügelstrafen gehörten für die KZ-Häftlinge genauso zum Alltag. Wir möchten dazu aus den Erinnerungen der ehemaligen französischen KZ-Häftlinge Robert Maréchal und Albert Chambon, die beide überlebt haben, zitieren. Was sie erinnern, geschah hier und in direkter Nachbarschaft.
Jasmin Bruns:
Die folgenden Zitate von Albert Chambon sind von Gerda Bonsiepen aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt worden. Die Übersetzung liegt als Typoskript einsehbar im Stadtarchiv Witten vor und wird demnächst veröffentlicht.
„Der ganze russische Block ist dazu verurteilt, 24 Stunden in der Kälte strammzustehen. Im Morgengrauen, bei der Rückkehr von der Fabrik sehen wir in den Reihen dieser unglücklichen armen Greise, mit verzweifeltem Blick, den Körper von Krämpfen geschüttelt. Am Abend sind mehrere tot umgefallen.“ (Albert Chambon)
Cem Zor:
Auch Hunger und Kälte zehrten an ihren Kräften.
Jasmin Bruns:
„Hoffentlich geht bald alles zu Ende und hoffentlich wird das Wetter schöner! Dann hätten wir einen Feind weniger: Die Kälte!“ (Robert Maréchal)
Cem Zor:
Unter anderem wurden Fluchtversuche grausam bestraft.
Jasmin Bruns:
„Beim Appell sind drei Fluchtfälle festgestellt worden, die beim Kaffeedienst stattgefunden haben. Das ist nicht der erste Fall, aber das erste Mal, dass eine ganze Gruppe bestraft wird, vielleicht um andere Fluchtkandidaten abzuschrecken und ihnen die Fähigkeit zu nehmen. Sie haben den Befehl bekommen, bis zum Abend in Hockstellung mit ausgestreckten Armen draußen zu bleiben.“ (Robert Maréchal)
Cem Zor:
Diese Umstände führten von Erschöpfung, über Krankheiten, auch bis hin zum Tode. Ende März 1945 „evakuierte“ [in Anführungsstrichen] die SS-Wachmannschaft das Außenlager und es begann ein dreitägiger schrecklicher Todesmarsch nach Lippstadt, wo die Überlebenden durch amerikanische Truppen befreit wurden.
Jasmin Bruns:
„Wenn wir fallen, wissen wir, dass wir erschlagen werden. Dennoch müssen wir zusätzlich auf diese schon schweren Karren die Kameraden legen, die zusammenbrechen, sonst wird ein Revolver in ihren Nacken knallen.
Die Kanone donnert vor uns, hinter uns, seitlich von uns. Wir denken nicht mehr an die mögliche Befreiung. Wann, wie könnte sie jetzt geschehen? Wir werden vorher hingerichtet werden. Es gibt keine Träumerei mehr, keine Hoffnung, keine Träume, keine Verzweiflung, wir sind vernichtet. Nur dies: wir müssen aushalten, aushalten, wie gewohnt aufrecht bleiben.“ (Albert Chambon)
Cem Zor:
Erst 1984 wurde die Geschichte des Lagers durch die 10a des Albert-Martmöller-Gymnasiums wiederentdeckt und die heutige Restfläche später unter Denkmalschutz gestellt. 1985 errichtete die Stadt Witten auf Initiative der Schulklasse ein Denkmal.
Emma Beke Bandmann:
Ein Ort als Symbol der Intoleranz, des Hasses und des Grauens ist ein Ort, der nicht vergessen werden darf. Es darf nicht vergessen werden, was Fremdenhass, Antisemitismus, Homophobie und Rassismus verursachen.
Cem Zor:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – Artikel 1, Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.
Emma Beke Bandmann:
In diesem ersten Satz ist zusammengefasst, was für jeden Menschen gelten muss, egal ob heute oder zukünftig.
Darum wollen wir als Schüler der Holzkamp-Gesamtschule daran erinnern, dass Ausgrenzung schon im Kleinen beginnt und leider auch heute Teil unseres Alltags ist, mehr als wir wollen. Wir stehen für Toleranz und für ein Miteinander aller Religionen und Kulturen. Damit wir diesem schrecklichen Ort etwas Neues, Gutes abgewinnen können, ohne das, was hier geschehen ist, in Vergessenheit geraten zu lassen oder gar schön zu reden.
Gerade in unserer heutigen Zeit, in der viele Flüchtlinge aus Kriegsgebieten zu uns kommen, sollten wir uns besinnen. Wir wollen ihnen mit offenen Armen Hilfe anbieten, anstatt uns kühl vom Leid der Flüchtlinge zu distanzieren. Und genau mit diesen offenen Armen wollen wir uns immer zeigen. Dabei spielt die Nationalität überhaupt keine Rolle!
Jasmin Bruns:
Es geht darum, ein friedliches, internationales Zusammenleben in der Welt zu ermöglichen, damit niemand gezwungen ist, aus welchen Gründen auch immer, aus seiner Heimat zu flüchten.
Emma Beke Bandmann:
Heute können wir als Schüler einer Europaschule ein Leben ohne Diskriminierung und Verfolgung genießen und haben uns als „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ einen wichtigen Auftrag mit Verantwortung für die Gegenwart und für die Zukunft gegeben.
Wann immer wir Kälte und Hass in uns spüren, ist es an uns, dagegen vorzugehen, um etwas Licht in die Dunkelheit der Welt hinauszutragen. Man kann das Geschehene nicht ungeschehen machen. Wir wollen nicht vergessen, sondern erinnern, daraus lernen und so dafür sorgen, dass wir gemeinsam eine Zukunft gestalten.
Cem Zor:
Während unserer Recherche im Stadtarchiv zu unserer heutigen Rede trafen wir zufällig zwei Geflüchtete, Ahmad und Mohammad, die sich uns vorstellten und ein wenig von ihrer Flucht aus Syrien nach Witten erzählten. Das, was täglich in den Medien über den gefährlichen Fluchtweg berichtet wird, was uns so vollkommen irreal erscheint, war plötzlich so nah, wie nie zuvor.
Die beiden haben uns darauf aufmerksam gemacht, was viele außer Acht lassen bzw. nicht drüber nachdenken. Ahmad, 22 Jahre, formulierte es so:
Jasmin Bruns:
„Terrorismus hat keine Religion!“
Cem Zor:
Genauso wurde uns bewusst, dass wir einen gemeinsamen Wunsch haben:
Jasmin Bruns:
„Wir wünschen uns [...] Frieden nicht nur für uns, sondern für alle Menschen.“
Emma Beke Bandmann:
Orte des Terrors wie dieser und der heutige Holocaust-Gedenktag erinnern uns daran, dass wir Diktaturen, die Terror ausüben, gar nicht erst zulassen dürfen. Antidemokratischer Gesinnung und Angriffen auf die Würde des Einzelnen müssen wir mit Zivilcourage entgegentreten.
Wir gedenken nun gemeinsam der Opfer der nationalsozialistischen Terrorherrschaft.