Ein Buch zur rechten Zeit - LWL-Handbuch zur jüdischen Geschichte

    Die Historische Kommission für Westfalen beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) hat jetzt mit dem vierten Band das „Historische Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe“ fertig gestellt. Alle vier Bände sind beim Stadtarchiv Witten einsehbar.

    Der abschließende vierte Band behandelt die ehemaligen und heutigen jüdischen Gemeinden im heutigen Regierungsbezirk Arnsberg. Die großen Gemeinden des Ruhrgebiets sind darin ebenso vertreten wie die kleinen Gemeinden im Sauerland.


    Beiträge zu Witten

    Die Beiträge zu Witten und Witten-Annen wurden von der Leiterin des Stadtarchivs Witten, Dr. Martina Kliner-Fruck, verfasst. Sie sind im Band Arnsberg auf den Seiten 813-829 und 829-832 zu finden. Professor Dr. Wilfried Reininghaus, ehemaliger Präsident des Landesarchiv Nordrhein-Westfalen und heute erster Vorsitzender der Historischen Kommission von Westfalen, hat neben weiteren Beiträgen die Autorenschaft für den Artikel zur jüdischen Gemeinde Witten-Herbede (Seite 832-836) übernommen.

    Die Stadt Witten und das Kulturforum Witten gratulieren dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe zum erfolgreichen Abschluss dieses aufwändigen Forschungsprojekts und danken insbesondere dem Redaktionsteam. Ab sofort ist die vierbändige Ausgabe des Historischen Handbuchs der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe im Nutzerraum des Stadtarchivs einsehbar.


    Wie gehen wir mit Minderheiten und mit Andersartigkeit um?

    „Das ist ein Buch zur rechten Zeit. Denn es ist als ein Bekenntnis zu einer pluralistischen Gesellschaft“, sagte LWL-Direktor Matthias Löb bei der Buchvorstellung am Dienstag (15.11.) in Dortmund. „Das Werk fragt uns: Wie gehen wir mit Minderheiten und mit Andersartigkeit um? In Zeiten, in denen viele Flüchtlinge zu uns kommen und in der wir über die Inklusion von Menschen mit Behinderung nachdenken, ist das ganz aktuell.“

    Das Gesamtwerk besteht aus drei Regionalbänden über die Orten in den drei Regierungsbezirken Arnsberg, Detmold und Münster, sowie einem Grundlagenband, der die jüdische Geschichte in Westfalen zusammenfasst. Alle Orte, in denen es entweder eine Synagoge oder einen jüdischen Friedhof gab, werden in einem eigenen Artikel behandelt. Im Band Arnsberg sind das 101 Ortsartikel. Einige größere Orte fehlen, da es dort keine Gemeinden gab, dafür finden sich kleine Dörfer, in denen zeitweise viele Juden lebten.

    „Juden lebten über Jahrhunderte dort, wo sie geduldet wurden und wo ihnen eine wirtschaftliche Existenz zugestanden wurde. Wenn sie aus größeren Städten ausgeschlossen waren, dann lebten sie oft in benachbarten Dörfern“, fasst Herausgeber Prof. Frank Göttmann (Universität Paderborn) ein wichtiges Ergebnis zusammen. Erst im 19. Jahrhundert wurden die Beschränkungen schrittweise aufgehoben, nun durften Juden überall wohnen und alle Berufe ergreifen. Viele kleine, ländliche Gemeinden lösten sich auf, die Juden zogen in die Großstädte. „Solche Zusammenhänge sind im Handbuch sichtbar geworden, weil es sich nicht auf die Verfolgungen der NS-Zeit beschränkt“, so Göttmann. Zwar beschreibt das Buch auch diese Zeit eingehend, viel Raum nimmt aber auch die Darstellung der Gemeinden vom 16. bis 19. Jahrhundert sowie der Neuanfang nach 1945 ein. „Das Handbuch kann kein Gedenkbuch mit vollständigen Namenslisten sein, es will einen historischen Überblick über mehr als 500 Jahre jüdischer Geschichte in Westfalen geben“, so Göttmann.

    Viel Arbeit hat das Redaktionsteam der Historischen Kommission für Westfalen investiert, um die insgesamt 273 Ortsartikel zu vereinheitlichen und nach Möglichkeit aus überregionalen Quellenbeständen zu ergänzen. Alle Artikel haben dabei eine einheitliche Gliederung erhalten. „Das war nicht immer einfach“, sagt der Kommissionsvorsitzende Prof. Wilfried Reininghaus, „aber Vergleiche zwischen den Orten sind dadurch überhaupt erst möglich. Darin liegt der entscheidende wissenschaftliche Gewinn des Handbuchs.“

    Der Vergleich zeigt auch, wie weit die Integration und Assimilation der Juden in den einzelnen Orten 1933 vorangeschritten war. Trotz der zunehmenden antisemitischen Hetze rechter Parteien war die Integration in den meisten Städten gelungen. Christliche Pfarrer nahmen wie selbstverständlich an der Einweihung von Synagogen teil, jüdische Häuser waren zur Fronleichnamsprozession geschmückt, in einigen Dörfern konnten Juden sogar Schützenkönig werden.

    All das brach nach 1933 in wenigen Jahren in sich zusammen und gipfelte in Verfolgungen von bis dahin unvorstellbarem Ausmaß. „Die Geschichte der Juden in Westfalen ist damit immer auch die Geschichte des Umgangs der Mehrheit mit der Minderheit“, betont Löb die gesellschaftliche Bedeutung des neuen Bandes. „Wie die Mehrheit sich zur Minderheit verhält, ob und wie sie diese integrieren kann, ist damals wie heute ein drängendes Problem.“ Wie leicht die sicher geglaubten Gewohnheiten im wechselseitigen Umgang nach 1933 in allen Orten Westfalens gekippt werden konnten, erschrecke bis heute. Dem Handbuch komme damit eine Aktualität zu, die zu Beginn des Projektes vor 15 Jahren nicht absehbar gewesen sei. „Wenn Teile unserer heutigen Gesellschaft die solidarischen Grundlagen des Zusammenlebens in Frage stellen, dann muss man an unsere ganz besonderen historischen Erfahrungen erinnern“, so Löb.


    Titel und ISBN des Buches

    Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Arnsberg, Hrsg. von Frank Göttmann, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Neue Folge 12 Münster, Ardey-Verlag, 860 Seiten, Festeinband, ISBN 978-3-87023-284-9, 79 Euro


    Quelle: Pressemitteilung des LWL

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