Hymne an die Jungen
    15. Juni - 22. September 2019

    Kuratiert von Cora Waschke, Berlin


    „Ihr

    Die ihr die Tür von neuem aufgerissen habt

    Ihr bedeutet mir ein Stück Glück

    Schaut nicht nach links

    Schaut nicht nach rechts

    Geht euren Weg …“

    Hans Kaiser, Hymne an die Jungen, 1982

     

    In seinem Todesjahr 1982 schrieb der Soester Maler Hans Kaiser die 6-strophige "Hymne an die Jungen". Gerade hatte er im Museum Folkwang in Essen die Ausstellung "10 Junge Künstler aus Deutschland" besucht. Ihr Kurator Zdenek Felix sah die Möglichkeit einer Bilanz, nachdem seit 1980 ein Diskurswechsel stattgefunden hatte. Eine neue, postmoderne Generation meldete sich zu Wort, die sich überraschenderweise der figürlichen Malerei zuwandte. Zwar war diese Bildform in Deutschland mit Georg Baselitz, Anselm Kiefer, Sigmar Polke und Gerhard Richter in den 1970er Jahren präsent und es wurden auch Bilder gemalt, doch das Interesse richtete sich vorrangig auf Konzept- und Videokunst und auf Minimalismus. Anfang der 1980er Jahre traten dann massiv junge Künstlerinnen und Künstler auf, die sich von den Positionen und Tendenzen der vorherigen Dekade abwandten, nicht ohne in spöttischer Ablehnung zu den etablierten Malern zu stehen.

    „Die junge Kunst, denn von ihr ist die Rede, verwirrt nicht zuletzt auch dadurch, dass sie sich in ihrer Mehrheit den traditionellen Ausdrucksmitteln, allen voran der Malerei, zuwendet und ihre Aussagen in einer scheinbar gedanklich unbeschwerten, subjektiven, oft provokanten Bildsprache formuliert […]. Sie verwirrt durch ihren ausgeprägten Individualismus und ihre Stillosigkeit, wird aber als Gesamtphänomen, als Tendenz […] beurteilt.“ (Felix im Essener Katalog). Den heute zu den Neuen Wilden gezählten zehn Künstlern (darunter Gerard Kever, der mit einem Werk in der aktuellen Ausstellung vertreten ist) sei es weniger um das „Malerische“, sondern um den „persönlichen, schwer definierbaren Ausdruck“ einer Bildfindung für die „Botschaft aus der Innenwelt des Künstlers“ gegangen. Ihnen schrieb der Maler Kaiser mit seiner Hymne eine Laudatio, da sie „weg von der Mode“ die „alten Anfänge nicht vergessen“ hatten, einen Apell, „schreit in den Raum, auch wenn ihr euch mal vertut“ und eine Warnung vor der Vereinnahmung durch Kunsthändler und Sammler.

    Auch Kaiser diente die „Malerei als Selbstverwirklichung“. Neben der formalen Gestaltung, die für ihn durchaus von Bedeutung war, stand der Versuch, die inneren Kämpfe auf die Leinwand zu bringen, sich in der Malerei loszuschreiben und in ein Außen einzuschreiben. 1914 geboren, war er nach der inneren Emigration während der Nazizeit bereits kein junger Künstler mehr, als er sich an zurückliegenden Stilen übte und sich schließlich 1951 auf seiner ersten Parisreise die dortige Moderne erschloss. In den Pressereaktionen der gerade erst erfolgten Einzelausstellungen in Hamm und Münster war er als „Meister der Farbe und Form“ und Autodidakt gefeiert worden. Vom jungen westen wurde er dort im gleichen Zuge abgegrenzt, obwohl er mit dieser Künstlergruppe, wie überhaupt mit Künstlern und Intellektuellen in regem Austausch stand – insbesondere mit Emilio Vedova und Anthony Thwaites. Kaiser verzichtete nach diesen Erfahrungen acht Jahre lang weitestgehend darauf, seine Arbeiten auszustellen, um in Ruhe zu einem eigenen Ausdruck zu gelangen. Bereits Ende der 50er Jahre entstanden die Losschreibungen. Kaiser löste sich von der Figuration und fand zu evokativen skripturalen Zeichen, die sein Werk fortan bestimmten.

    Wenn die ‚jungen Künstler’ mit ihren wilden Gesten für Kaiser „die Tür von neuem aufgerissen“ haben, wird er sich sicherlich auch an seinen eigenen persönlichen Durchbruch innerhalb der Malerei erinnert gefühlt haben. Das Feiern des Jungen als Ausdruck einer Hoffnung auf Wiedererneuerung ist tief in uns Menschen verankert. Spätestens seit den 68ern, einer Zeit in der das Jungsein gegen das Establishment positioniert wurde, wurde die Jugendkultur als in den Markt integrierbares und konsumierbares Produkt erkannt. Die Anti-Ästhetik der Situationisten etwa wurde im Otto-Katalog aufgegriffen und die sexuelle Befreiung mündete im Verkaufsschlager Porno. Jugend wirkt heute mehr als Zwang eines individuellen und gesellschaftlichen Optimierungsstrebens, als dass sie mit Revolte verbunden würde (Das beginnt sich allerdings gerade zu ändern). Im Zeitalter der Digitalisierung wurde die Wiedererneuerung über das Schlagwort der Innovation zur Disruption, welche das Alte nicht integriert, sondern zerstört. In der Kunst wie in der Mode ist man auf der Suche nach dem, was „fresh“ ist, während das Neue immer schneller altert. Unsere Gier nach dem Neuen wird marktwirtschaftlich genutzt und manipuliert. Die Neugierde ist jedoch erst einmal eine positive anthropologische Konstante, die uns dem Unbekannten gegenüber offen sein lässt. Dafür muss das Alte nicht verschwinden. Auch das Alte will entdeckt werden. 

    Die hier versammelten zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstler stehen mit ihrem Werk zu der Feier des Jungen, dem Markt des Neuen und dem Blick auf das Alte in unterschiedlichen Beziehungen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie scheinbar nicht versucht sind relevant zu erscheinen, indem sie sich dem ‚Neuen’ in Form digitaler oder netzbasierter Kunst verschreiben, noch indem sie gesellschaftspolitische Themen abbilden oder illustrieren würden. Entgegen diesem heutigen, etablierten Trend bleibt ihr Fokus auf dem künstlerischen Werk unter Einbezug sowohl alter als auch neuer Medien, Darstellungsweisen oder Erscheinungsformen. Die oft rätselhafte Präsenz ihrer Werke fordert Vorstellungskraft und ein subtiles Einlassen vom Betrachter, um sich ihre komplexe Bedeutung zu erschließen. Was sich hier auch vom und für das Leben ableitet, es geschieht innerhalb der Sphäre der Kunst. Wer so arbeitet, stellt sich den Unwägbarkeiten der Kunst, etwa den Fragen nach Qualität,

      Shahin Afrassiabis Malereien zeugen von einem Rückzug aus der hektischen, gedrängten Großstadt. Der Akt des Malens wird zu einer spirituelle Suche nach Verfeinerung und Verifizierung von Formen des Lebens in der Welt, jenseits von Zeichen und Diskurs. Licht, Farbe und die Beziehungen der Formen - was in diesen Kompositionen als träumerische Meditation über eine vergangene Moderne anmutet, versteht der Künstler als Auseinandersetzung mit der Realität.  / Shahin Afrassiabi, *1963 in Theran, Iran, lebt und arbeitet in London und Granada.

      Mit seinen gekonnt ungelenken Zeichnungen und Malereien von fratzenhaften Figuren, die abstrakten Expressionismus, Outsider Art und Bad Painting vereinen, mit Titeln wie Friedenssiemens und Eichmann spielt André Butzer auf der Klaviatur der jugendlichen Frechheit, verballhornt Status wie Tabus und macht gleichzeitig die mögliche Warenförmigkeit einer anarchistischen Haltung sichtbar. / André Butzer, *1973 in Stuttgart, lebt und arbeitet in Altadena, Kalifornien.

      Das gleichwertige Nebeneinander unterschiedlichen Bildmaterials bei Ben Cottrell erinnert an Aby Warburgs Mnemosyne Atlas. Auch hier entdeckt der Betrachter Form- und Motivwiederholungen. Viele der Zeichnungen und Fotografien stammen vom Künstler selbst. Damit scheinen die Bildtafeln dessen inspirativen und schöpferischen Kosmos zu präsentieren. Ihre offenen Strukturen finden sich in seinen Malereien wieder. / Ben Cottrell, *1972 in Cornwell, England, lebt und arbeitet in Berlin.

      Ina Johanna Göttes Installation Andrea(s) in der Karibik enthält zahlreiche Kippmomente, die gewohnte Sehweisen in Kunst und Gesellschaft in Frage stellen. Eine junge Frau auf einem Rollstuhl entpuppt sich als hybrider Torso aus Keramik, die hellblaue Studioleinwand wirkt als monochromes Bild und stilisiertes Meer, der Heizlüfter simuliert die warme Brise der Karibik. Das Versprechen der Reklamen von ewiger Jugend und Gesundheit – hier wird ihr schöner Schein gebrochen. / Ina Johanna Götte, * in Gießen, lebt und arbeitet in Berlin.

      Biomorphe Formen beherrschen die Bildflächen von Thomas Helbigs Gemälden. In sphärischen Räumen tauchen dunkle Abbildungen von Gesichtern, Masken und Händen auf. Diese eskapistischen figurativen Elemente kontrastieren mit den dominanten abstrakten Formen. Es entsteht eine rätselhafte, okkulte Welt zwischen Zeigen und Verbergen. Während das Internet totale Sichtbarkeit suggeriert, wird bei Helbig das Verschwinden und Sich-Entziehen zum Bild. / Thomas Helbig, *1967 in Rosenheim, lebt und arbeitet in Berlin.  

      Jana Schumachers Arbeiten berühren Themen wie die Beherrschung des Unvorhersehbaren und Formgebungen zwischen Zufall und Gesetz. In schwarzlackierte, buntuntermalte Prägedrucke von Weltkarten ritzt die Künstlerin real zurückliegende Sturmverläufe. Die Strukturen der Zyklone gehen auf den Spirographen zurück, der im 19. und 20. Jahrhundert mathematisches und erkenntnistheoretisches Instrument war und heute als Zeichenspielzeug für Kinder bekannt ist. Das ernste Tun der Erwachsenen wird über die verwandten Techniken mit dem spielerischen und zweckfreien zeichnerischen Zugang des Kindes zur Welt verknüpft. / Jana Schumacher, *1983 in Bonn, lebt und arbeitet in Hamburg.

      Von Hans Kaiser (*1914 in Bochum; †1982 in Soest) sind Arbeiten aus verschiedenen Werkphasen von den 1930er Jahren bis 1980 zu sehen. Sie werden mit den unterschiedlichen Positionen zeitgenössischen Kunstschaffens konfrontiert. Mit dem Blick auf die heutigen „Jungen“ greift diese Ausstellungen die Hymne eines Künstlers auf, der in den 1950er und 60er Jahren selbst Ausstellungen für Künstler initiierte. Die Hans Kaiser-Sammlung des Märkischen Museums wurde unlängst durch eine Schenkung erweitert, die in dieser Ausstellung mit zahlreichen Werken vertreten ist.

       

      Text: Cora Waschke, Kuratorin der Ausstellung und Kunsthistorikerin aus Berlin